Über die verlorene Kunst, eine 1000-seitige Anleitung wütend in die Ecke zu feuern
Dieser Artikel wurde ursprünglich als Teil einer Artikelserie auf unserer LinkedIn-Seite veröffentlicht:
- Über die verlorene Kunst, eine 1000-seitige Anleitung wütend in die Ecke zu feuern
- Intelligente Dokumentation für Ihr Support-Team
- Anleitungen als Marketinginstrumente
- Zukunftssichere, AI-kompatible Produktliteratur
- Open-Source-Software und digitale Souveränität
- Single-Source Publishing: The Song Remains the Same
- Übersetzungsworkflows: Vom Fließband zur intelligenten Zusammenarbeit
Liebe Leser,
Ich bin schon seit Ewigkeiten auf LinkedIn – aber um ehrlich zu sein, habe ich es nie geschafft, hier auch etwas zu publizieren. Nun, das wollen wir ändern.
(Diejenigen, die mich von anderen Plattformen kennen, werden nun vermutlich „Der Herr sei uns allen gnädig“ flüstern. Aber ich werde mich gut benehmen. Wahrscheinlich.)
Seit 1989 schreibe, redigiere und übersetze ich Produktliteratur. Im Jahr 2013 kam die Betreuung mehrsprachiger Projekte mit bis zu 30 Übersetzern hinzu (oder wie wir in der Branche sagen: „Das faszinierende Leben eines Flohzirkusdirektors“). Dabei hatte ich das Privileg, für einige der weltweit bekanntesten Audio- und Produktionsequipment-Marken zusammenzuarbeiten. Einige dieser Marken sind noch immer Bestandteil meiner täglichen Arbeit, andere leben nur noch als schöne Erinnerungen weiter.
Durch diese Arbeit ist eine mentale Landschaft aus Installations-, Gebrauchs- und Entsorgungsanweisungen entstanden – und das Wissen, dass in Tausenden von Tonstudios und Büros auf der ganzen Welt etwas, an dem ich monatelang gearbeitet habe, ausgepackt, etwa zwei Sekunden lang bewundert und dann für immer in der hintersten Ecke eines Regels entsorgt wurde. Ruhe in Frieden, 800-seitige deutsche Opcode Vision 2.0-Anleitung (1994–1995).
(Jeder hat einen Traum. Bei Ihnen ist das vielleicht eine Yacht. Für technische Redakteure besteht der Traum darin, dass jemand tatsächlich jeden Satz einer Anleitung liest, einschließlich der Liner Notes und des Kolophons, bevor er einen Wutanfall bekommt, weil „die verdammte App / der Hallprozessor / der Monitor nicht funktioniert“. Die Hoffnung stirbt zuletzt.)
Im Laufe der Jahre hat sich Produktliteratur grundlegend verändert.
Anleitungen, Kurzanleitungen und Support-Dokumente sind nicht mehr kiloschwere Wälzer, die in üppigen Kartonschubern – oft vergebens – auf Leser warten.
Anfang der 1990er Jahre wurde FrameMaker – die mächtige Software, mit der die Wartungsanleitungen für die noch mächtigere Boeing 777 erstellt wurden – auf vierzehn 3,5-Zoll-Disketten geliefert (Sie können sich vorstellen, wie angespannt ich beim Einlegen von Diskette Nr. 13 war) und umfasste etwa 1.000 Seiten Dokumentation (natürlich in FrameMaker selbst erstellt) – genug, um eine Armada von Papierbooten zu bauen, falls man an so etwas Freude hat.
Das war, wie Marty McFly sagen würde, eine heftige Sache. Und als Zwanzigjähriger, der von elektronischer Musik fasziniert war, hatte ich das Privileg, diesen Single-Source-Publishing-Giganten nutzen zu dürfen, um Anleitungen für … Musiksoftware zu schreiben! Beispielsweise für ein Programm, mit dem ambitionierte Klangforscher ein Karplus-Strong-Synthesemodul auf einem Graustufenbildschirm mit der Auflösung einer modernen Smartwatch konfigurieren konnten – und nach 30 Minuten Verarbeitung auf einer 8-MHz-CPU ein einsekündiges Sample genießen durften, das klang wie ein deprimierter Androide, der eine rostige Gitarrensaite zupft. Zauberei!
Heute haben wir weder die Jetpacks noch die Ferienhäuser auf dem Mars, die uns damals versprochen wurden. Aber immerhin werden Anleitungen und Wissensdatenbanken nun oft aus zentralen Quellen erstellt, und nicht nur Produkt, Marketing, Legal und Support teilen mit uns Freud und Leid der technischen Redaktion, sondern (begrüßen wir ganz herzlich unsere digitalen Kollegen!) große Sprachmodellen.
Die Menschen (und ja, vor allem Männer), mit denen ich über meine Arbeit rede, behaupten noch immer, dass sie grundsätzlich keine Anleitungen lesen. Genau wie vor 30 Jahren. Doch die zahllosen Beiträge in den „Produktdetails“ fast jeder Amazon-Produktseite (die nun von Rufus mit Informationen gefüllt werden, jener freundlichen KI, die – großes Indianerehrenwort – garantiert nicht die Weltherrschaft anstrebt!) beweisen, dass die Menschen nach wie vor neugierige Geschöpfe sind und gerne über den mysteriösen roten Knopf diskutieren, den die Anleitung leider nicht erwähnt. Wir sind eine Spezies von Tüftlern und Geschichtenerzählern, weshalb ganze Communities rund um die Bluetooth-Kopplungsfunktion einer KI-fähigen Waage für 29,99 € aus Shenzhen entstehen können – und auch das „BMI- und Lebenserwartungs-Vorhersagemodul” kommt dabei nicht zu kurz.
Warum sollte man überhaupt Dinge dokumentieren? Warum akzeptieren wir all die digitalen Black Boxes nicht einfach als solche?
Weil es einen Unterschied gibt zwischen dem einfachen Betätigen eines Schalters und dem Beherrschen einer Sache – auch wenn diese Beherrschung wieder nur eine einzelne Stufe auf einer langen Leiter ist, für die sich im Englischen inzwischen der schöne Begriff „Yak-Shaving” etabliert hat. Der Weg ist das Ziel. (Einzelheiten siehe Seite 499ff.)
Auch die Übersetzungsbranche hat sich weiterentwickelt. Wir sind von „dokumentenzentrierter“ Arbeit (800-seitige Wälzer) zu Inhalten übergegangen, die nahezu grenzenlos in Print-, Web-, Social-Media- und Support-Kanälen wiederverwendet und umfunktioniert werden können.
Kurz gesagt: Es ist an der Zeit, die Erstellung und Bereitstellung von Produktliteratur zu überdenken und zu erkunden, was intelligente Tools und ein wenig Neugierde für uns leisten können.
Mehr dazu nächste Woche.
In der Zwischenzeit würde ich gerne wissen:
Wie geht Ihr Unternehmen heute mit Produktdokumentationen um? Verteilen Sie immer noch PDF-Dateien? Oder sind Sie zu einem „Web-First“-Ansatz übergegangen?
Und – was am wichtigsten ist – hat vielleicht noch jemand die Diskette Nr. 14 des FrameMaker 3.0 für Mac OS 7-Installationsprogramms in seinem Keller?
Nächste Woche: Intelligente Dokumentation für Ihr Support-Team
↻ 2025-09-17